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Rian Johnsons Buch "Poker Face" zeigt die USA in Miniaturform


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Streaming Retro-TV vom Feinsten: „Poker Face“ ist eine Hommage an Columbo, mit einer großartigen Natasha Lyonne als menschlichem Lügen-Detektor „on the road“ und einem angenehm entspannten „Fall der Woche“-Erzählrhythmus

Charlie Cale (Natasha Lyonne) verdient ihr Geld im Casino. Doch den Job als Cocktail-Kellnerin ist sie schnell los

Charlie Cale (Natasha Lyonne) verdient ihr Geld im Casino. Doch den Job als Cocktail-Kellnerin ist sie schnell los

Foto: Peacock TV LLC

Im Friseurladen ist es besonders schlimm. „Wie geht‘s der Familie?“ – „Ganz wunderbar, Johnny hat dieses Jahr einen Einser-Schnitt“. „Wie läuft der Laden“ – „Besser denn je!“. „Wie macht sich der neue Job?“ – „Großartig, lauter nette Kollegen!“. Und natürlich der Klassiker: „Bester Haarschnitt aller Zeiten!“ Wo andere nur beschönigende Höflichkeit oder allenfalls harmlose Übertreibungen heraushören, erklingt für Charlie (Natasha Lyonne) ein Gebirge von Bullshit, das ihr regelrecht in den Ohren weh tut. Denn Charlie ist ein Lügendetektor in Menschengestalt. Sie weiß nicht warum oder woher sie diese Gabe hat; es ist einfach so: Sie erkennt sofort, wenn jemand lügt, und zwar egal ob der- oder diejenige vor ihr steht, nur am Telefon zu hören ist oder gerade im Fernsehen auftritt.

Man würde denken, ein solches Talent ließe sich lukrativ ausbeuten. Aber genau das hat Charlie bereits ausprobiert. In der zugegebenermaßen naheliegendsten Variante: am Poker-Tisch. Aber es ging nicht gut aus. Im Gegenteil führte es dazu, dass die nicht mehr ganz junge Frau in der allerersten Folge von Poker Face im knappen Kleidchen den etwas unwürdigen Job einer Cocktail-Kellnerin in einem Casino verrichtet. Aber dann wird eine Freundin, die als Zimmermädchen arbeitete, tot aufgefunden, angeblich vom eigenen Ehemann ermordet, der danach Selbstmord beging. Und Charlie kann nicht anders, als die Spur der Lügen aufzunehmen, die ihr zunächst fast zufällig zu Gehör kommen. Auch das endet natürlich nicht gut. Stattdessen findet sich Charlie am Schluss dieser ersten Folge arbeitslos und ohne Geld auf der Straße wieder, genauer gesagt in ihrem Oldtimer-Auto, einem blauen Plymouth Barracuda. Der wahre Mörder ist zwar entlarvt und das FBI benachrichtigt, aber Charlie hat von nun an den Auftragsmörder Cliff (Benjamin Bratt) auf den Fersen und muss „off the grid“ leben, das heißt ohne Smartphone, ohne Internet, ohne Kreditkarten. Ganz wie in alten Zeiten!

Die „alten Zeiten“ spielen in mehr als nur einer Hinsicht eine große Rolle dieser neuen Serie, die von Rian Johnson kreiert wurde, dem Regisseur von Star Wars: The Last Jedi (2017), Knives Out (2019) und Glass Onion (2022), alles Filme, die bezeichnenderweise auf je verschiedene Weise Nostalgie-Projekte waren. Wo The Last Jedi am besten von allen neuen Star Wars-Filmen die leicht schmierige Sentimentalität der Ursprungs-Trilogie emulierte, erweckte Johnson mit Knives Out das altmodische „Whodunnit“ im Geiste von Agatha Christie zum Leben, ressentimentgeladene Klassengegensätze und schrullige Detektive mit eingeschlossen.

In Poker Face nun ist nicht nur Charlies Auto und ihre Existenz ohne Internet „vintage“, sondern das Format der Serie selbst könnte kaum mehr retro sein. Jede Folge beginnt mit der Schilderung der Tat, in der Regel ein Mord. Danach erst, manchmal ist da schon die halbe Folge um, taucht in Gestalt von Charlie die „Ermittlerin“ auf.

Just one more thing

VIDEO: Poker Face | Official Trailer | Peacock Original
Peacock

Diese Form von zuerst die Tat, dann die Aufklärung ist heute den meisten vor allem aus einer Serie bekannt: Columbo, mit Peter Falk als Zigarren lutschendem Regenmantel-Träger, der sich schließlich umdreht und mit „Just one more thing“ (zu deutsch: „Ich hätte da noch eine Frage“) den Täter so endgültig ins Stolpern bringt, dass der sich selbst verrät. Mit Columbo selbst besitzt Natasha Lyonnes Figur der „Bullshit“-Detektorin Charlie auf den ersten Blick keinerlei Ähnlichkeit. Charlie ist eine gesellschaftliche Außenseiterin ohne festen Job und ständig auf Durchreise, auch hat sie weder eine Gattin, beziehungsweise einen Mann, dessen häusliche Weisheiten sie zitieren noch ein „Bagde“, das sie bei Bedarf aus der Tasche ziehen könnte. Im Gegenteil ist ihr wichtig, dass sie keine Polizei-Arbeit verrichtet. Aber wenn man die Augen zusammenkneift und diese störenden Details ausblendet, erkennt man die tieferliegende Verwandtschaft zum berühmten Vertreter des Mordkommissariats von Los Angeles: eine unerschöpfliche Neugier auf die Welt und ein ganz unzynisches Verständnis dafür, wie Menschen versuchen darin zurechtzukommen.

Eingebetteter Medieninhalt

Die strukturellen Ähnlichkeiten sind wie gesagt deutlicher: Wie auch in Columbo geht es auch in den einzelnen Folgen von Poker Face nur selten zentral um Charlie. Ihre Geschichte bildet lediglich die Rahmenerzählung, die mal mehr, mal weniger voran kommt. Stattdessen richtet sich der Fokus in jeder Episode auf einen neuen Fall – eine „Case per Week“-Struktur, die man eigentlich nur noch im deutschen Linear-TV als heimisch vermutet. Ein Mord passiert, ein Mord wird aufgeklärt, und dann heißt es: eine Woche warten!

Einer der großen Vorteile dieser Form zeigt sich in der überaus glamourösen Besetzung, die Poker Face zwischendurch wie eine Vanity-Fair-Oscar-Edition erscheinen lässt. Wenn sie sich nicht gleich eine ganze Staffel, sondern lediglich eine Folge ans Bein binden müssen, sind Namen wie Nick Nolte, Ellen Barkin und Adrien Brody bereit, ins Seriengeschäft einzusteigen. Chloë Sevigny hat in Folge Vier als Leadsängerin einer abgehalfterten Heavy-Metal-Band, die noch mal den ganzen großen Hit herbeizwingen will, ihren besten Auftritt seit mindestens zehn Jahren.

Ein weiterer Vorteil der „Fall der Woche“-Struktur besteht darin, dass einem nicht alle Folgen gleich gefallen müssen und man zwischendurch auch immer wieder getrost vergessen kann, was die Woche zuvor geschah. Was natürlich schade wäre, denn die kleinen Welten, die die Serie Folge für Folge neu erfindet – eine Grillstation in den Südstaaten, ein verschneites Ressort in den Bergen, eine LKW-Tankstelle plus Supermarkt und Sandwich-Imbiss im Nirgendwo und viele weitere mehr –, sind exquisite Miniaturen über das Amerika der Gegenwart und seinen Umgang mit den eigenen Mythen.

Poker Face Rian Johnson USA 2023; 10 Folgen. Sky & WOW

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Author: Timothy Bowman

Last Updated: 1703305681

Views: 516

Rating: 4.1 / 5 (87 voted)

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Name: Timothy Bowman

Birthday: 1987-04-05

Address: 17416 Mark Glens, Meghanberg, IL 86223

Phone: +4871891807516461

Job: Interior Designer

Hobby: Cross-Stitching, Playing Piano, Mountain Climbing, Juggling, Card Collecting, Horseback Riding, Playing Chess

Introduction: My name is Timothy Bowman, I am a unreserved, Gifted, sincere, cherished, risk-taking, unguarded, tenacious person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.